Ein Hoch auf das Schubladendenken
Schluss mit dem Schubladen denken! Ich lasse mich in keine Schublade stecken! Man kann doch nicht alle in einen Topf werfen! Oder doch?
Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, dass wir Schubladen brauchen, nach Identität verlangen, Vorbilder, Idole, jemanden mit denen wir uns identifizieren können?
Wir wollen jemand sein, wissen wohin und zu wem wir gehören.
Schon vor 15 Jahren habe ich mir diese Frage gestellt, beziehungsweise sie mir bereits beantwortet. Wir können nicht ohne Gallionsfiguren und Wörter leben, die uns ein Gefühl von Ankommen vermitteln.
In meiner Jugend gab es stets einen großen Streit was den Musikgeschmack betrifft. Es gab die Gabber und es gab die Punks. Jedenfalls haben die einen Hardcode und Techno gehört, die anderen Rock, Punk und Metal. Zweimal im Jahr gab es die Kirmes bei uns in der Stadt und mindestens zweimal im Jahr trafen sich Anhänger dieser Gruppen um sich verbal und nonverbal zu prügeln. Und auch wenn diese Zeiten vorbei sind, so gibt es genau diese Art von Machtkämpfen heute noch überall. Bis hin zur großen Weltpolitik, Religionskämpfen und Konzernmächten etc. Und das alles ist (leider) nur möglich, weil sich nicht nur jeder für besser hält, sondern weil die sich die einzelnen Menschen in den jeweiligen Gruppierungen identifizieren.
Ein Kind bis zum Kindergartenalter identifiziert sich mit noch gar nichts. Kleidung egal. Musik egal. Spielzeug egal. Mama oder Papa: nicht egal. Kleiner Scherz am Rande. Dann ab etwa Kindergartenalter fangen die ersten Abspaltungen an. Vorgelebt durch ältere Kinder, Erzieher, Eltern, Großeltern, TV und Werbung fangen die lieben Kleinen an, Geschmäcker zu entwickeln. Plötzlich trägt ein Großteil der Mädchen lieber Pink und Jungs sind erstmal doof. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regeln. TV Serien werden geliebt und es gibt keinen Platz mehr für anderes. Das Kind ist nicht mehr das Kind, sondern der Hauptdarsteller seiner Lieblingsserie und wehe man spricht es mit seinem richtigen Namen an.
Was ich damit sagen will ist, dass der Mensch einfach nicht anders kann. Er braucht etwas in seinem Leben, das wie ein Anker ist, mit dem er sich wohlfühlt. Und so traurig es manchmal ist, kann es für manche Menschen eine Psychische Krankheit sein, mit der sie sich identifizieren, andere finden sich in der Rolle des einsamen Büchernerds ohne Freunde wohl, manche nehmen sich die Instagramscheinwelt zum Vorbild und stürzen ab, weil es das ist, was sie ausfüllt und widerum andere Personen fühlen sich der rechtsextremen Szene zugehörig, selbst wenn das was Schlechtes ist. Es gibt so viele Beispiele, positive wie negative.
Und deswegen werden wir auch von unseren Mitmenschen automatisch in Schubladen gesteckt.
Am beliebtesten sind wohl die Schubladen: Sexualität, Wohlstand, Intellekt und Ernährung.
Und auch ich stecke Menschen in Schubladen, obwohl ich es versuche zu vermeiden. Ich mustere, analysiere, habe Vorurteile und ordne dann den Menschen ein. Nicht immer richtig. Manchmal auch in eine Schublade, in der die Person sich selbst nie sehen würde. Genauso wie ich selbst mich immer und immer wieder versuche mit etwas zu identifizieren.
Und das ist gar nicht so leicht. Wer bin ich denn? Was will ich vom Leben? Wo will ich in den nächsten Jahren sein? Fragen, deren Antworten nicht so einfach aus dem Ärmel geschüttelt sind, einem aber für die eigene Einordnung helfen. Schon in Schulzeiten wollte ich mich immer Gruppen zugehörig fühlen. Ich war stets der Außenseiter, der Sonderling. Cool oder beliebt, anerkannt, war man nur, wenn man Teil einer Gruppe war. Das war ich nicht. Für mich damals ein schlimmer Zustand. Heute weiß ich, dass ich einfach nur in einer anderen Schublade gesteckt habe und somit eine andere Identität hatte. Vielleicht nicht eine, die mir gefallen hat, aber so war es. Und auch heute kenne ich meine Identität nicht genau. Welcher Mensch bin ich und was mag ich? Ich bin eher ein Identifikationshopper. Ich habe das zwar so ein Grundgerüst, aber meine Geschmäcker ändern sich Etappenweise.
Vor einiger Zeit dachte ich „hygge“ ist genau mein Ding. Ich kannte das vorher nicht und trotzdem schien das Wort der Anker zu sein, auf den ich gewartet habe. Und doch ist es am Ende so, dass ich viel mehr und gleichzeitig viel weniger als die Hygge-Schublade bin.
Es ist zwar ein Teil von mir, aber das Wort alleine beschreibt mich nicht.
Mein Kollege sagte mir zu diesem Thema vor kurzem: „Ich finde es schrecklich, dass man immer ein Wort braucht, um sich mit etwas zu identifizieren.“ Zumindest so ähnlich hat er es ausgedrückt. Das Gespräch war sehr lang und wir sind nicht auf einen Nenner gekommen. Im Verlauf hatte ich das Gefühl, dass er mir meine Identifikation mit Hygge absprechen möchte. Das wollte er zwar nicht, aber es kam bei mir so an. Und im Nachhinein identifiziert auch er sich deutlich mit bestimmten Gruppen. So ist er Fan eines Fußballvereins und lässt kaum anderes zu.
Und da war mir wieder klar, dass es nicht schlimm ist, wenn wir in Schubladen denken, solange wir sie für uns denken. Wir brauchen Vorbilder um uns zu puschen und zu verbessern. Wir benötigen eine Identität, um uns zu zeigen und anderen gegenüber zu präsentieren, damit sie uns wiederum richtig einordnen können. Sich mit etwas zu identifizieren ist einfach ein Wegweiser und die Wege können und dürfen sich im Laufe des Lebens ruhig verändern. Das ist okay und soll so sein. Es ist ein Prozess, der langsam reift. Und um sich zu finden, vergeht manchmal ein ganzes halbes Leben.
Also geht zu eurer geistigen Kommode und öffnet eure Schubladen, schaut rein, was sie für euch bereithalten.
Ich hoffe, der Artikel hat euch gefallen und konnte euch Denkanstöße vermitteln. Verratet mir eure Schublade in den kommentaren.
Euer Herbstmeedchen